Eine spannungsreiche Kombination zwischen der emotionalen, meditativen Suche und der kritischen Reflexion
Ihr Geburtstag ist der 100. Todestag von Friedrich Nietzsche, und so wählte sie ihn zum Wahlverwandten. Im August 2000 beschloss sie, zum gemeinsamen Jubiläum die Blüten eines Straußes mit Rittersporn aufzubewahren. Die wunderschön in blauer Vielfalt getrockneten Sommerblumen fanden ein halbes Jahr später für eine Installation im Schloss Agathenburg bei Stade ihre Verwendung: Man las in der Fensterleibung, umgeben von den blauen Blumen: „Freiheit, sich nicht mehr vor sich selbst schämen“. Und an anderer Stelle dieser Rauminstallation fand sich Nietzsches Aphorismus:
Gedanken sind die Schatten unserer Empfindungen, immer dunkler, leerer und einfacher als diese.
Inzwischen ist die Blütensammlung durch zwei weitere Sommer gewachsen, wobei sich die Farbpigment in zarten Abstufungen wunderbar gehalten haben sollen. Und in noch knackigerer Frische ist das Blau des Rittersporns auf den daraus entstanden Bilder, mit Lackfarben auf Folien gemalt, die man gewöhnlich als billige Tischdecken verwendet, wisch- und reißfest und obendrein erstaunlich farbbeständig. Nicht beim Künstlerbedarfladen erhält man sie, sondern als Rarität in speziellen Haushaltsgeschäften in einem schrillen Farbsortiment. Es ist mühsam, sie auf Rahmen zu spannen, es erfordert Kraft, Geschick und fast ein wenig Glück, wenn die Spannung eine perfekte Oberfläche bilden soll. Ein wenig fummelig ist die Beschäftigung, aber und gerade wegen der Mühseligkeit ein geruhsames Vorspiel, bevor der Pinsel geschwungen wird. Allerdings: Die Arbeit mit dem Pinsel ist noch viel mehr „Gefriemel“, Kleinstarbeit an dem auf dem Fußboden liegenden Bild. Die feinste Spur der Pinselborsten sitzt unverrückbar auf der Obenfläche. Und Korrekturen lassen das Übermalte nicht verschwinden, sondern können allenfalls die Formen erweitern und das Blütenblau ein wenig dämpfen oder brechen. Sie können, um mit den Nietzsche-Zitat zu spielen, eine Art Schattendasein (oder auch Lichtreflexe) zur den ursprünglichen Form bilden, so wie die Gedanken nur Schatten unserer Empfindungen sind. An dem zarten Relief der Farbschicht lässt sich die Übermalung sogar ertasten.
Rauminstallationen spielen im Werk von I.V. eine entscheidende Rolle. Sie sind auch der Ausgangspunkt für die meisten Ihrer Bilder, die sie seit der Diplomausstellung an der Hochschule für bildende Künste (Hamburg) stets auf glänzender PVC-Folie gemalt hat. Schon damals ging es um eine Synthese von Text- und Bildelementen, die den Raum verwandeln und so aus mehreren Richtungen Besitz von uns ergreifen. Zum Repertoire der Ausdrucksmittel gehören dabei auch das Bemalen der Wände und Fensterscheiben und die scherenschnittartige Bearbeitung von Fotos. Ich erinnere mich an die Eindrucksvolle Installation Rettungsinseln im Kunsthaus Hamburg zur Ausstellung Skripturale, mit vielen bunt auf die Wand gemalten Inseln, als Queroval mit zwei Palmen und Namen versehen: Insel der Liebe (rot), Insel des Lichtes (gelb), Insel der Achtung (grün), Insel der Klarheit (blau), Insel der Sehnsucht, der Hoffnung, der Träume, des Friedens, des Sinnlichkeit, der Ewigkeit, der Kunst, der Ruhe, der Freude, der Güte, der Verheißung. Ein wenig davon ist in das Fensterbild mit dem Blick vom Schlafzimmer eingegangen, die beiden im hellen Grund verankerten Kakteen im Vordergrund mit dem Seestern, der die Form der Palmen aufnimmt und den kaligraphischen Linien des Walnussbaums, die sich wie selbstverständlich auf der Fensterbank vorsetzen. Hier wie in vielen anderen Bilder spürt man, wie mit Linien komponiert wird, wie sich aus einem Gespinst tastend suchender Striche entschiedene Formen herausbilden.
Das kann man besonders eindrucksvoll in den Zeichnungen wiedererkennen (sie hängen als kleiner Block im hinteren Gang). Manche Partien wirken wie das nervös gelangweilte Gekritzel, das entstehen mag, wenn ein Telefongespräch nicht enden will und es trotz bereitgelegtem Stift und Papier einfach nichts zu notieren gibt. Es kommt darauf an, solche scheinbar unkontrollierten Dokumente verlorener Zeit schließlich mit wenigen Linien und sparsamen Farbstiften auf den Punkt zu bringen, was Ilka Vogler auf frappierende Weise gelingt – manches erscheint wie eine Bildgeschichte, bei der jeder seinen eigenen roten Faden zu finden hat.
Auch in diesen spontanen Blättern hilft kein Übermalen – da muss man einfach aussortieren, so wie man einen falsch begonnenen Brief lieber noch einmal neu anfängt. „Ich mache es mir immer schwer“ diese Worte lassen sich auf einem Blatt im Gewirr der Linien entziffern. Zur Antwort hängte die inzwischen 13-jährige Tochter ihr einen Zettel an die Tür: „Take it easy“.
Doch diesem Aufruf wird die Mutter so wenig folgen, wie unsere Kinder als Passionierte Langschläfer uns glauben, dass Morgenstund’ Gold im Mund hat. Denn Ilka Vogler liebt die verschlungenen Pfade, die vielen Um-, Ab- und Nebenwege mit einer reichen Fülle an komplexen Gedankenspielen und Widersprüchen, so wie die Liebesherzen mit dem flüchtigen Schriftzug „I love You“ in ewigbeständiger Lackfarbe auf Folie mit tausendjähriger Halbwertzeit gesetzt nichts über die Beständigkeit oder Vergänglichkeit einer Beziehung aussagen – sie lassen sich gewiss nicht als Sparmaßnahme an stelle frischer Blumen verwenden – Was nicht heißen soll, dass man sie ruhig für den Partner erwirbt – kann auf alle Fälle nicht schaden!!
Auf andere Weise wird die Liebe in der einzigen kleinen Installation dieser Ausstellung behandelt – mit dem Schriftzug „remember“ – das Wort bildet übrigens die Titel des wunderschönen Bilderbuchs, das vor einigen Jahren vom Verlag Dölling und Galitz herausgebracht wurde. Auf feierlichen blauen Sockeln stehen die Schnapsgläser, die, wenn man sie füllt, einen nackte Schönheit gestochen scharf erscheinen lassen, während die Dame beim leeren vollständig verschwindet. So versteht sich das Nachfüllen des Glases von selbst, remember, vergiss es nicht. Und zugleich vergisst die Künstlerin nicht die 70er Jahre in Paris, wo sie die Zaubergläser einst entdeckte. „Faites vos jeux“ steht auf Lacktafel darüber, doch einmal heißt’s „Les jeux sont faits“.
Erinnerungen an die eigene Geschichte tauchen bei Vogler immer wieder auf. Das sind z.B. die Terrariums-Tiere, die der Vater nach seinem Tod vererbte: Gecos, Leguane und andere Exotika, die in dem verschlungenen Spiel der Linien ihren Platz behaupten. Und zu ihrer Geschichte gehört auch die Liebe zu Matisse, dessen leuchtenden Farbflächen die Lackfolien gewidmet sind. Ein Bild bringt ein berühmtes Interieur des großen Klassikers der Moderne zusammen mit dem Eigenen Zimmer der Künstlerin – auch hier zweifellos eine Wahlverwandtschaft, die keine Last bedeutet. Denn die Erneuerung, die von Matisse ausging, bestand nicht in irgendeinem Stil, sondern in der Befreiung der Farben, Flächen und Linien von räumlicher und plastischer Engstirnigkeit – und von den Schatten!!
Ein anderer Ilka Vogler hoch geschätzter Maler ist Giovanni Segantini, auf dessen Spuren sie in die Alpen nach Silsmaria reiste – in der Heimat von Friedrich Nietzsche. Mit atemberaubender Brillanz gelang es ihr, das Lichtspiel des Hochgebirges und selbst das Abendrot auf die Lackfolie zu bannen. Sie besitzen eine Monumentalität, die die Enge des Ausstellungsortes zu sprengen droht. Und das, obwohl nur die kleineren Formate für die Ausstellung gewählt wurden. Die oberen Bildflächen blieben glänzend unbemalt – als ein Stück Himmel oder Ewigkeit, die man im Gebirge spürt. Und wer sich in diese glatten Flächen vertieft, entdeckt sich selbst als Spiegelbild, das sich mit jeder Bewegung verändert. Geradezu lieblich wirken daneben die aquarellierten Landschaften, die hier als Block objekthaft zusammengefasst wurden. Man kann sie auch einzeln erwerben – aber sollte dabei nie die Wucht der großen Formate vergessen, so wie man vom lieblichen Alpental aufsteigend nicht die Gefahr im ewigen Eis vergessen darf. Oder weniger pathetisch mit dem Text einer der Zeichnungen gesagt: „Es gelingt nicht, wegzukommen“.
Thomas Sello (Hamburger Kunsthalle), 2003